Interview mit Dr. Laura Schlachzig, wissenschaftlicher Mitarbeiterin der Katholischen Hochschule NRW
© Dr. Laura Schlachzig
Paderborn, den 14. November 2022. Dr. Laura Schlachzig arbeitet seit 2018 als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Sozialwesen an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen und als freiberufliche Referentin für rassismuskritische Bildung. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Integrationskritik, Intersektionalität, Rassismuskritik, Trauma, Flucht im Kontext Sozialer Arbeit.
Die Studie untersucht Aufenthaltssicherungspraktiken von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten. Nach einem abgelehnten Asylantrag dominiert das Leistungsprinzip, dass ein sicherer Aufenthalt mit Teilhabemöglichkeiten und einem Mehr an Freiheit über „Integration“ selbst zu erarbeiten ist. Es geht dabei vordergründig um die individuelle Einsatzbereitschaft, Kapitalien gewinnbringend auf dem deutschen Arbeitsmarkt einzusetzen, sich entlang eines Fähigkeitsregimes selbst zu optimieren und die Folgen von aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen selbst zu verantworten. Institutionen der Jugendhilfe wirken im Prozess der Aufenthaltssicherung ermöglichend und begrenzend zugleich.
In unserem Interview spricht Frau Dr. Schlachzig über die Ergebnisse Ihrer Forschungsarbeit und die Schwierigkeiten, die mit einer Promotion verbunden sind.
Frau Dr. Schlachzig, welches Ziel verfolgten Sie mit Ihrem Forschungsvorhaben?
Mein Ziel war es, aus einer rassismuskritischen Perspektive zu untersuchen, inwiefern unbegleitete minderjährige Geflüchtete (umG), denen kein Schutzanspruch im Rahmen des Asylverfahrens zugesprochen wird, auf anderem Wege versuchen, ihren Aufenthalt in Deutschland zu sichern. Im Rahmen eines ethnografischen Vorgehens (beobachtende Teilnahme) über insgesamt drei Jahre habe ich Aufenthaltssicherungspraktiken von jungen geflüchteten Menschen in einer prekären aufenthaltsrechtlichen Situation untersucht.
Dabei hat mich interessiert, welche Rolle die Jugendhilfe, insbesondere Sozialarbeitende, in diesem Prozess einnehmen. Denn umG werden aufgrund ihrer unbegleiteten Einreise nach Deutschland vom Jugendamt (vorläufig) in Obhut genommen und leben z.B. in Wohngruppen der Kinder- und Jugendhilfe. Im Rahmen meine Forschung habe ich selbst zeitweise in einer Jugendhilfeeinrichtung gelebt, die jungen Menschen in ihrem Alltag begleitet und u.a. die sozialarbeiterische Praxis teilnehmend beobachtet.
Der Titel meiner Dissertationsveröffentlichung lautet Integrationsarbeit unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter. Eine Ethnografie über Aufenthaltssicherungspraktiken. Das A in Integrationsarbeit hätte ich gerne großgeschrieben, um die von mir herausgearbeitete Zweideutigkeit zu markieren. Einerseits soll mit ‚Integrationsarbeit‘ die Abarbeitung von sog. Integrationsanforderungen zum Ausdruck kommen und andererseits der starke Fokus auf Erwerbsarbeit, der im AufentG deutlich wird, um sich als junger geflüchteter Mensch für einen weiteren Aufenthalt in Deutschland zu qualifizieren.
Zu welchem Ergebnis sind Sie mit Ihrem Forschungsvorhaben gelangt?
Zunächst konnte ich feststellen, dass unbegleitete minderjährige Geflüchtete in einer aufenthaltsrechtlich unsicheren Situation über aufenthaltsrechtlich formulierte Integrationsleistungen ihren Aufenthalt zu sichern versuchen. Denn den Aufenthalt über Integration zu sichern, verspricht – übrigens auch im politischen Diskurs um Integration – einen durch eigenverantwortliche Leistung beherrsch- und kontrollierbaren Erarbeitungsprozess.
Im politisch dominierenden Integrationsdiskurs, aber auch in der Praxis, werden junge Geflüchtete mit aufenthaltsrechtlichen Anforderungen konfrontiert, die jedoch im Widerspruch zu ihrer durch Diskriminierung geprägten Lebensrealität stehen. So wird z.B. in § 25a Abs. 1 S. 1 AufenthG von jungen geflüchteten Menschen, die ihren Aufenthalt über „gute Integrierung“ sichern wollen, u.a. gefordert, dass sie deutsche Sprachkenntnisse, enge persönliche Beziehungen außerhalb der Familie, Schul- und Berufsausbildung, (je nach Alter) die Ausübung einer Erwerbstätigkeit, soziales und bürgerliches Engagement, die Akzeptanz der hiesigen Rechts- und Gesellschaftsordnung, sowie Rechtstreue nachweisen, als auch strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten zu sein. Das Gesetz, und auch die Sozialarbeiter*innen, die mit dem Gesetz arbeiten müssen, adressieren die jungen Menschen als verantwortlich dafür, dass sie diese Anforderungen erfüllen. Es wird davon ausgegangen, dass es an ihrer Anstrengungsbereitschaft liegt, ob sie langfristig in Deutschland bleiben können oder nicht.
Die Lebensrealität von umG ist allerdings von zahlreichen (strukturellen) Diskriminierungen geprägt, einer permanenten Adressierung als ‚Anderer‘, als Nicht-Zugehöriger, die sie nicht beeinflussen können und durch die es scheinbar unmöglich wird, jemals als integriert zu gelten. Es lässt sich daher sagen, dass Diskriminierungen, insbesondere Rassismus, ein deutliches Integrationshindernis bzw. ein Hindernis in der Abarbeitung der Integrationsleistungen darstellen.
Die zahlreichen Belastungen geflüchteter Menschen durch die von Unfreiwilligkeit und Unsicherheit gekennzeichneten Strukturen finden keine Berücksichtigung. Vielmehr geht es auch darum, eine „volkswirtschaftliche Nützlichkeit“ unter Beweis zu stellen, und weniger darum, dass die jungen Menschen einen Beruf erlernen können, an dem sie Freude und Interesse haben, oder Zeit zu erhalten, um (psychische) Belastungen zu verarbeiten und für ihr eigenes Wohlbefinden zu sorgen.
Die hohen Anforderungen, wie z.B. das schnelle Deutschlernen, erfordern, dass diese Belastungen zunächst nicht bearbeitet werden. Dafür gibt es keinen (zeitlichen) Raum und oftmals auch keine professionelle Unterstützung.
Man kann festhalten, dass das Integrationsverständnis der an Integration orientierten Aufenthaltstitel, einen nicht-abweichenden, nicht belasteten jungen Menschen voraussetzt, der über volkswirtschaftlich nutzbare Fähigkeiten verfügt, und es deswegen selbst in der Hand habe, ob sie*er in Deutschland bleiben kann.
Meiner Ergebnisse sollen nicht den Anschein erwecken, dass es keine geflüchteten Menschen gibt, die über eine Ausbildungsduldung nach § 60c AufenthG oder einen Aufenthaltstitel nach § 25a AufenthG erhalten, nicht auch längerfristig in Deutschland bleiben. In meiner Analyse geht es vielmehr darum, dass die Erfüllung der sog. Integrationsanforderungen erstens selten ohne (sozialarbeiterische) Unterstützung funktioniert, diese aber strukturell zeitlich begrenzt ist (zumindest eine intensive professionelle Unterstützung), wenn beispielsweise die Wohngruppe mit Vollendung des 18. Lebensjahres verlassen werden muss, zweitens die Erfüllung der Integrationsanforderungen von dem Glück abhängt, ob die Fähigkeiten, über die man verfügt, auf dem hiesigen Arbeitsmarkt als nützlich gelten oder zumindest die Aussicht besteht, dass solche schnell entwickelt werden können, und drittens, dass ihnen nicht aufgrund von Diskriminierungen den Zugang zum Wohnungs- und Arbeitsmarkt verwehrt wird. Zusammengefasst hängt die Erfüllung der Integrationsanforderungen von vielen Aspekten ab, die der*die Einzelne nicht so beeinflussen kann, wie es die dahinter liegende Annahme suggeriert.
Jedoch stehen nicht nur junge geflüchtete Menschen vor zahlreichen widersprüchlichen Anforderungen, sondern auch Sozialarbeiter*innen der Jugendhilfe, die eingebettet in dem Diskurs über Integration agieren und Geflüchtete für eine Integration aktivieren (müssen). Dem gilt es in weiteren Studien nachzugehen.
Welche nützlichen Tipps können Sie jungen Absolvent*innen an die Hand geben, die Interesse an einer Promotion haben?
Ich habe die Teilnahme an Forschungskolloquien, wissenschaftlichen Tagungen und Summer Schools als sehr bereichernd erlebt. Auch als Promotionsinteressierte kann man an diesen Veranstaltungen teilnehmen und erhält erste Einblicke in das, was einen während der Promotion erwartet. Viele Summer Schools (z.B. an der Universität zu Köln) erheben nur eine geringe Teilnahmegebühr oder sind sogar ganz kostenlos.
So bereichernd eine Promotion auch sein kann, ist es meines Erachtens auch wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Finanzierung der Promotion eine Herausforderung darstellt und von zahlreichen Unsicherheiten begleitet sein kann. Dies führt auch dazu, dass viele Menschen strukturell von der Aufnahme einer Promotion ausgeschlossen werden, wenn sie beispielsweise nicht im Notfall von den Eltern übergangsweise finanziell aufgefangen werden können oder selbst finanzielle Verantwortung für andere Personen tragen.
Wie gestaltete sich Ihre Finanzierung während der Promotion?
Ich habe (fast) durchgängig an Universitäten oder an Fachhochschulen gearbeitet. Anfangs habe ich als wissenschaftliche Mitarbeiterin auf verschiedenen Vertretungsstellen oder/und in unterschiedlichen Forschungsprojekten gearbeitet. Zeitweise hatte ich sogar mehrere Stellen gleichzeitig. Zum Beispiel war ich mit einem Umfang von 30% einer Vollzeitstelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig und mit 50% in einem Forschungsprojekt angestellt. Da auch die Arbeit in Forschungsprojekten zeitlich befristet ist, liefen beide Stellen Ende 2017/Anfang 2018 zeitversetzt aus. Es folgten vier Monate, in denen ich Arbeitslosengeld I bezog. Im Herbst 2018 begann ich eine Qualifizierungsstelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Sozialwesen an der katho NRW. In den ersten drei Jahren hatte die Stelle einen Umfang von 50% einer Vollzeitstelle, die im vierten Jahr auf 60% aufgestockt wurde.
Welche Erfahrung stechen für Sie im Zuge der Promotion besonders heraus?
Einerseits habe ich die Promotionszeit als eine sehr bereichernde Zeit erlebt. Sich intensiv mit einem Thema auseinanderzusetzen, den eigenen Erkenntnisprozess zu beobachten, Gedanken in z.B. Forschungskolloquien zu diskutieren, neue Fragen zu entwickeln und so stetig zu wachsen. Andererseits war diese Zeit von zahlreichen Unsicherheiten begleitet, insbesondere in Bezug auf die Finanzierung der Promotion. Zeit, die eigentlich besser für gute Forschung hätte genutzt werden können, ging dafür drauf, sich von Vertrag zu Vertrag zu hangeln, um die Promotion weiter finanzieren zu können.
Ich unterstütze daher die Forderungen für bessere Arbeitsbedingungen in Forschung und Lehre der Initiator*innen von #IchBinHanna (https://ichbinhanna.wordpress.com/).
Originalmeldung:
https://katho-nrw.de/news/detailansicht/dissertation-integrationsarbeit-unbegleiteter-minderjaehriger-gefluechteter