Hochschule Bielefeld arbeitet an neuen Architektur-Konzepten
© HSBI | P. Pollmeier
Minden, 25. Juni 2024. Es ist eine illustre Nachbarschaft: Botschaft reiht sich an Botschaft, daneben das Kulturforum mit seinen verschiedenen Museen, im Hintergrund die Berliner Philharmonie, der Tiergarten vor der Tür. Charlotte Meyer zu Erpen rückt ihr städtebauliches Modell ein wenig zurecht und deutet auf ein kleines Gebäude-Ensemble: „Und hier ist das Frauenhaus!“ Mittendrin. Die 28-Jährige lacht. „Das tortenstückförmige Grundstück wollte zunächst gar nicht zu meinen Vorstellungen von einem Frauenhaus und seinem Bauort passen. Ich musste erst einmal umdenken.“
Die soziale Dimension von Architektur: Frauenhäuser sichtbar und sicher mitten in der Stadt
Genau das hatte Prof. Dipl.-Ing. Bernd Niebuhr, zuständig für das Lehrgebiet Lehrgebiet Städtebau und Entwerfen am Campus Minden der Hochschule Bielefeld (HSBI), auch im Sinn, als er sein Thema für Abschlussarbeiten in den Architektur-Studiengängen stellte: zum Umdenken und Nachdenken anregen über Frauenhäuser und ihre Architektur. Soziale Fragestellungen sind Niebuhr besonders wichtig: „Vor allem im städtischen Raum hat Architektur neben der formalen auch immer eine soziale Ebene. Es gilt, den Bedarf und die Bedürfnisse der verschiedenen, auch benachteiligten Nutzerinnen und Nutzer, in Räume umzusetzen.“ Der Professor unterstreicht: „Und das geht durchaus auch mit schönen, liebevoll entworfenen Gebäuden.“
Um die mit dem Begriff „Frauenhaus“ verbundenen Vorstellungen zu lösen und zu erweitern, wählte Niebuhr bewusst den englischen Ausdruck für den Titel seiner Aufgabenstellung: „Women’s Shelter House“. Auch, weil es internationale Beispiele für einen durchaus anderen Umgang mit dem Thema gibt, wie Niebuhr recherchiert hat. „In den Niederlanden etwa wird ein offensiver Ansatz verfolgt, die Frauenhäuser sind teils auffällig in Orange gestrichen und gut sichtbar in den Städten platziert.“ Das Konzept: „Dadurch soll Aufmerksamkeit für das dahinterstehende Problem geweckt werden, die Gewalt gegen Frauen.“ Die ist auch hierzulande nach wie vor ein Problem: Auf der Website der Frauenhauskoordinierung ist nachzulesen, dass 2022 über 14.000 Frauen Schutz in einem Frauenhaus gesucht haben. So zielte auch Niebuhrs Aufgabe darauf, das Thema ins Bewusstsein zu rücken: ein Frauenhaus mitten in Berlin, ausgestattet mit öffentlichen Räumen ebenso wie mit geschützten Sicherheitsbereichen, platziert am Rand des Tiergartens.
Studierende aus den Studiengängen Architektur und Integrales Bauen
„Eine echte Herausforderung“, sagt Charlotte Meyer zu Erpen, und Marlon Vahrenhorst nickt bestätigend: „Die Kombination von offenem und geschlossenem Konzept war die größte Schwierigkeit.“ Das hat die beiden nicht abgeschreckt, das Thema in ihrer Abschlussarbeit aufzugreifen: Für Meyer zu Erpen war es die Masterarbeit im Studiengang Integrales Bauen, für Vahrenhorst die Bachelorarbeit im Studiengang Architektur. Los ging es mit einer Recherche zum Thema und einer Analyse des Bauorts. Dafür fuhren die Studierenden nach Berlin und schauten sich vor Ort um.
Die persönliche Besichtigung ist Charlotte Meyer zu Erpen besonders wichtig. „Den Genius Loci zu verstehen und zu erleben, hilft mir sehr beim Entwerfen. Man kann aus der Nachbarbebauung viel lernen und ablesen für den eigenen Entwurf.“ Die Studentin stellte etwa fest, dass die umgebenden Gebäude alle versetzt stehen. Besonders deutlich zu sehen war das im Schwarzplan. „Das ist ein Plan, der nur die Umrisse der Gebäude zeigt, wie Fußabdrücke“, wirft Bernd Niebuhr erklärend ein. Für Meyer zu Erpen war klar: „Mein Gebäude wird kein Riegel an der Straße entlang werden.“
Die Entwürfe sind öffentlichkeitswirksam und behüten die Bewohnerinnen gleichzeitig
Was dann? „Man schiebt die vielen Ideen, die man entwickelt, hin und her.“ Erst im Kopf, dann als Skizzen, ob per Hand oder auf dem Tablet. Schließlich kristallisierte sich eine Lösung heraus: vier verschiedene, versetzt stehende Gebäude, die unterschiedliche Funktionen haben. „Zum Beispiel Wohneinheiten, Kommunikationsräume oder auch Räumlichkeiten für die Kinder der Frauen“, erläutert Charlotte Meyer zu Erpen. Über Laubengänge hat sie die Gebäude geschickt miteinander verbunden und um einen großzügigen Innenhof gruppiert. „Der Innenhof ist von außen nicht zugänglich, er gibt gleichzeitig Sicherheit und die Möglichkeit, sich an der frischen Luft aufzuhalten und zu bewegen.“ Nur eines der Gebäude öffnet sich zur Straße und damit zugleich zur Öffentlichkeit. „Hier sind ein öffentliches Café und ein Ausstellungsraum untergebracht zur Aufklärung über häusliche Gewalt an Frauen.“
Marlon Vahrenhorst hat einen anderen Weg gewählt. „Ich habe von Außen nach Innen geplant und zuerst die Baukörper entworfen“, erklärt er und nimmt einen Baukörper von seinem Gebäudemodell hoch. Der Blick in den Keller wird frei, und Vahrenhorst zeigt das Innenleben des Gebäudes: „Dann habe ich überlegt, wie ich das Raumprogramm darin unterbringe, also die erforderlichen Räumlichkeiten.“ Seine Lösung: ein Gebäude mit zwei Baukörpern, die einen privaten Innenhof schaffen und durch einen Laubengang verbunden werden. Ein kleiner Kiosk schafft Verbindung zur Öffentlichkeit, ansonsten sind die Außenfenster fast durchgängig schmal gehalten. „Nach Außen soll das Gebäude eher zurückhaltend, unauffällig wirken“, erklärt Vahrenhorst. Auch, um dem Sicherheitsaspekt gerecht zu werden, der wie bei seiner Kommilitonin durch zusätzliche Sicherheitsschleusen erfüllt wird. Ganz anders der Eindruck zum Innenhof: Großzügige Fensterfronten öffnen die Fassade, bringen Licht und Offenheit. „Damit wird ein geschützter Raum offen gestaltet.“
Architektur kann ein Ausrufezeichen setzen gegen die Gewalt
Beiden Studierenden war eines besonders wichtig: „Die Frauen sollen sich sicher, aber nicht eingesperrt fühlen“, sagt Charlotte Meyer zu Erpen. Marlon Vahrenhorst hat deshalb auch eine Bibliothek eingeplant. Sie verläuft quer durch das Gebäude, mit großen Fensterflächen zum Innenhof und nach Außen, sodass eine Durchsicht entsteht. „Eine Art Schlüsselloch nach Draußen“, interpretiert Vahrenhorst die Öffnung seiner Außenfassade. Und unbeabsichtigt hat er auch ein wichtiges Zeichen geschaffen, wie Charlotte Meyer zu Erpen auffällt: „Die beiden Fenster übereinander wirken wie ein großes Ausrufungszeichen.“
Bernd Niebuhr freut sich über die Unterschiedlichkeit der Ansätze: „In der Architektur gibt es nicht die eine Lösung, sie ist vielfältig.“ Den Professor überzeugen beide Arbeiten gleichermaßen, er ist sich sicher: „Würden die Entwürfe realisiert, würden sie eine große Aufmerksamkeit erhalten.“ Sie würden ein (Ausrufe-)Zeichen setzen und damit ein Ziel von Architektur erfüllen: ein Thema sichtbar machen.
Ansprechperson:
HS Bielefeld
Leiter Hochschulkommunikation
Dr. phil. Lars Kruse
+49 (0)521 106 7754
presse@hsbi.de