Das Ziel: Erkennen, was die Betroffenen in unterschiedlichen Lebensphasen brauchen
Bielefeld, den 08. August 2022. Über Suchterkrankungen wird nach wie vor zu wenig gesprochen – vor allem, wenn sie Frauen betreffen. Dabei ist es für eine erfolgreiche Therapie entscheidend zu wissen, wie Sozialisierung, Lebensereignisse und Suchtbiografie zusammenhängen. Um das Thema näher zu beleuchten, haben Prof. Dr. Katja Makowsky und Dr. Havva Mazı vom Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule (FH) Bielefeld in ihrem Projekt „Weiblichkeit und Sucht – Resilienz bei suchterkrankten Frauen und ihre Bewältigungsstrategien im Lebenslauf (WuS)“ sieben suchterkrankte Frauen zu ihren Erfahrungen und Erlebnissen interviewt. Diese hielten sich zum Zeitpunkt der Befragungen in der psychosomatischen Fachklinik für Abhängigkeitserkrankungen Brilon-Wald auf, mit der die FH in diesem Projekt kooperiert. Das Ergebnis: Krankheitseinsicht, soziale Unterstützung, die Distanz zu Suchtmitteln und die Kontrolle über das eigene Leben sind essenzielle Beweggründe und Ressourcen für die Frauen.
Subjektive Strategien der Suchtbewältigung sind vielfältig
„Unser Ziel war es, zu erkennen, was Frauen benötigen, um sich aus ihrer Sucht zu befreien“, erklärt Projektleiterin Makowsky. „Denn bestimmte Hilfsangebote können nur in bestimmten Phasen der Krankheitsbewältigung angenommen werden. Diese Phasen müssen daher richtig erkannt und genutzt werden.“ So zeigen Betroffene in unterschiedlichen Phasen verschiedene Umgangsweisen mit der Sucht, die von Wut über Selbst-Isolierung bis hin zur proaktiven Bewältigung reichen können.
Um herauszufinden, wie biografische Ereignisse die Frauen geprägt und sich auf die Suchterkrankung ausgewirkt haben, wurden die mitgeschnittenen Interviews einer qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen. Im Vordergrund standen dabei die subjektiven „weiblichen“ Bewältigungsstrategien. Das langfristige Ziel: Unterstützungsangebote liefern, die speziell auf die Bedürfnisse und Lebensphasen von Frauen zugeschnitten sind, damit sie wieder aktiver am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können.
Essenziell: die Krankheitseinsicht und der Schritt, sich in eine Suchtbehandlung zu begeben
„Die mit Abstand wichtigste Ressource ist, dass die Frauen ihre Krankheit auch als solche erkennen und sich in Behandlung begeben“, so die stellvertretende Projektleiterin Dr. Havva Mazı. Dabei können unterschiedliche Beweggründe eine Rolle spielen. Eine aus der Türkei stammende Frau möchte mithilfe der Therapie ihre Familienverhältnisse aufrechterhalten und ihre Kinder schützen, wie sie im Interview beschreibt: „Mein Ehemann sagte mir immer: ‚Schau mal, du kennst die Situation selbst, wie es sich auf die Kinder auswirkt. Mach‘ das, was du kannst. Schreck‘ die Kinder nicht ab. Sonst würden sie in Zukunft nicht mehr zu uns kommen, und darüber wärest du sehr traurig.‘“
Auch für eine der deutschstämmigen Frauen waren Ehe und Familie die vorrangige Motivation, die Therapie zu beginnen: „Ich bin 62 und sozusagen Rentnerin, und ich muss mich irgendwie völlig neu ausrichten. Nein, ich meine, ich muss gar nichts, ich kann auch einfach weitersaufen. Aber damit geht alles kaputt. Ich gehe kaputt, meine Ehe geht kaputt, und ich bin jetzt 36 Jahre mit meinem Mann zusammen.“
„Ein Leben muss doch auch einen Sinn haben.“
Auch die Suche nach einem Sinn im Leben gibt den Frauen Kraft, um sich, teils zum wiederholten Male, auf eine Therapie einzulassen. „Ich möchte gerne herausfinden, wie ich ein sinnhaftes Leben führen kann“, sagt eine. „Es ist ja nicht damit getan zu sagen: ‚So, ich trinke jetzt nicht mehr.‘ Also das Trinken alleine ist es ja nicht. Ich möchte ja auch ein Leben leben. Mein Leben leben und nicht am Ende meines Lebens feststellen, dass ich das Leben eines anderen gelebt habe. Wie soll ich das beschreiben? Ein Leben muss doch auch einen Sinn haben.“
Eine andere junge Frau berichtet, dass sie in der Fürsorge für ihren schwerbehinderten Halbbruder einen Sinn gefunden hat: „Er hängt auch sehr an mir, das weiß ich. Deswegen möchte ich auf jeden Fall mein Leben auf die Reihe kriegen und auch für ihn da sein. Und das möchte ich nicht mit Drogen oder Alkohol.“
Soziale Kontakte und Unterstützung: Familie und Freunde können bei der Suchtbewältigung helfen
Der Lebenspartner, Familienangehörige und Freunde spielen bei der Bewältigung der Suchterkrankung eine große Rolle. Sie können motivierend einwirken, im Alltag unterstützen und beispielsweise die Teilnahme an längeren Therapien erleichtern. Eine der Frauen berichtet: „Mittlerweile geht es mir besser. Ich denke einerseits, weil ich jetzt hier in der Klinik bin, aber auch, weil mein Freund mich unterstützt, wo er nur kann. Er ist immer für mich da, genauso wie meine Mutter.“
Eine weitere Ressource: Gestaltung von gesunden Beziehungen
Mehrere der Frauen berichten, dass sie die Beziehungen zu ihrer Umwelt verbessern wollen, sich aber schnell überfordert fühlen. Dr. Havva Mazı: „Eine der Frauen hat zum Beispiel Probleme damit, wieder eine Beziehung zu ihrer Mutter und ihrer Schwester aufzubauen, weil sie die beiden bestohlen hat und sich deswegen schämt.“ In der Therapie möchte sie daran arbeiten. Haustiere sieht sie dabei als eine gute Möglichkeit: „Für den Anfang erst mal eine Katze. Das fehlt mir irgendwie: jemand, den ich verwöhnen kann, mit dem ich reden kann und der auf mich wartet und sich freut, wenn ich nach Hause komme.“
Hobbys und ein strukturierter Alltag schaffen Distanz zu Suchtmitteln
Ein entscheidender Faktor für den Therapieerfolg ist die Distanz zu Suchtmitteln. Vor allem alkoholabhängige Frauen haben es schwer, da Alkohol überall und zu jeder Zeit verfügbar ist. Daher haben die Gestaltung der Freizeit sowie ein strukturierter Alltag große Bedeutung. So erzählt eine junge Patientin: „Sport hilft mir zum Beispiel gut, weil ich dann die Anspannung loswerde. Wenn mich das Verlangen überkommt, dann muss ich mich ablenken, zum Beispiel mit Musik oder eben Sport.“ Eine andere: „Kochen, die Wohnung aufräumen, die Wäsche waschen – das sind vielleicht alles Kleinigkeiten, aber die müssen strukturiert sein über den Tag. Damit ich nicht irgendwann am Tag Leerlauf habe und wieder an die Sucht denke.“
Verantwortung übernehmen für die eigenen Kinder
Ein weiterer Beweggrund für viele Frauen, sich aus ihrer Sucht zu befreien: Verantwortung übernehmen und Kontrolle gewinnen. So berichtet eine der befragten Alkoholikerinnen, die zweifache Mutter ist, während ihrer Schwangerschaften nicht getrunken zu haben. Ähnlich erging es einer 21-jährigen Mutter, die ihre ersten beiden Kinder mit 15 und 18 Jahren bekam. Beide Kinder musste sie aufgrund ihrer Suchterkrankung zur Adoption freigeben. Nun hat sie sich für eine Therapie entschieden, da sie mit ihrem dritten Kind im siebten Monat schwanger ist und ihr Kind selbst großziehen möchte.
Professionelle Betreuer können Frauen dabei helfen, die Kontrolle über ihr Leben zurückzugewinnen, etwa in Finanzfragen. „Ich muss wieder lernen, mit Geld umzugehen“, sagt eine. „Am Ersten des Monats, wenn das Geld kommt, fahre ich mit meiner Betreuerin immer direkt zur Bank. Dann mache ich meine ganzen Überweisungen.“
Qualitative Inhaltsanalyse zeigt auf: Die Frauen haben ähnliche Strategien
Havva Mazı zeigt sich von den Gesprächen mit den Frauen tief beeindruckt: „Es ist faszinierend zu sehen, wie sie es schaffen, trotz der widrigen Umstände, in denen sie sich befinden, immer wieder aufzustehen, ihre Lebensfreude nicht zu verlieren und bestrebt sind, ein geregeltes Leben zu führen.“ Trotz der sehr unterschiedlichen Suchtbiografien falle auf, dass die Frauen ähnliche Bewältigungsstrategien verfolgen.
Die vorläufigen Ergebnisse des Projekts „Weiblichkeit und Sucht“ sollen nun genutzt werden, um künftig passendere Hilfsangebote zu etablieren. Und ein Folgeprojekt ist bereits in Arbeit. Es soll Unterstützungsbedarfe von suchterkrankten Schwangeren und Müttern mit Kindern im Alter bis drei Jahren ermitteln sowie mögliche Hindernisse für die Annahme von Hilfsangeboten identifizieren.
Originalmeldung:
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