Ein Projekt der FH Bielefeld arbeitet daran, die Einspeisung von Energie ins Stromnetz mit KI steuern.
Bielefeld, 13. Januar 2022. Auf dem Dach der FH Bielefeld glitzern und strahlen sie so in der Sonne, dass man den Modulen der Photovoltaikanlage (PV) bei der Stromerzeugung förmlich zugucken kann. „Leider scheint die Sonne nicht immer so schön“, sagt Katrin Schulte bedauernd. Damit benennt die Spezialistin für Stromnetze von der Fachhochschule (FH) Bielefeld eine der beiden Herausforderungen, vor der Netzbetreiber beim Ausbau der dezentralen erneuerbaren Energieerzeugung stehen: Anders als konventionelle Kraftwerke erzeugt eine PV-Anlage keine konstante und planbare Leistung. „Wetterabhängige oder auch volatile Stromerzeugung nennen wir das“, erklärt Schulte. Die so erzeugte Leistung wird dann in das Niederspannungsnetz eingespeist, an dem auch die privaten Haushalte angeschlossen sind. Die allerdings benötigen immer öfter eine große Leistung, etwa wenn ein E-Auto aufgeladen wird. „Das ist“, so Schulte, „die andere große Herausforderung!“
Eine dezentral arbeitende KI zur Steuerung des Stromnetzes
Die Energieerzeugung durch viele kleine Anlagen und der Verbrauch im Niederspannungsbereich werden also künftig steigen und gleichzeitig stärker schwanken. „Das Netz sicher zu steuern, wird durch die Ausgangslage zu einer komplexen und immer schwieriger werdenden Aufgabe“, beschreibt Katrin Schulte das Problem. Deshalb hat die 26-Jährige ein internationales Forschungsprojekt mit auf den Weg gebracht, in dem ein vielversprechender Ansatz zur Lösung ausgearbeitet werden soll: verteilte, also dezentral arbeitende, Künstliche Intelligenz (KI) zur Steuerung des Stromnetzes. Oder wie es im Projekttitel auf Englisch heißt: „Artificial Intelligence on the edge for a secure and autonomous distribution grid control with a high share of renewable energies (AI4DG)“.
Unis Bielefeld und Grenoble, Atos Worldgrid und Westfalen Weser Netz mit an Bord
Im Oktober haben die beteiligten Wissenschaftler mit der Arbeit begonnen. Katrin Schulte ist als Doktorandin für die FH mit dabei. Das Vorhaben baut auf ihrer bisherigen Forschung auf: Nach ihrem Bachelor in Regenerative Energien an der FH Bielefeld hatte sich die 26-Jährige im Master Elektrotechnik vertieft mit intelligenten Energiesystemen auseinandergesetzt. Seit Anfang 2020 forscht sie als wissenschaftliche FH-Mitarbeiterin in Projekten zur Gestaltung der Energiewende am Institut für Technische Energie-Systeme (ITES) in der Arbeitsgruppe Netze und Energiesysteme (AGNES) unter der Leitung von Prof. Dr.-Ing. Jens Haubrock. Prof. Haubrock betreut als Initiator und Projektleiter AI4DG, in dem die Partner mit verschiedenen Schwerpunkten digital vernetzt zusammenarbeiten. Während von der FH Bielefeld Idee, Initiative und Stromnetz-Expertise kommen, steuert die Université Grenoble Alpes das Know-how zur KI bei. Die Universität Bielefeld kümmert sich um den schon erwähnten dezentral verteilten Einsatz der KI, um das sogenannte Edge Computing. Die Industriepartner Atos Worldgrid aus Frankreich und der Bereich „Innovation – Intelligente Netztechnik“ von Westfalen Weser Netz aus Deutschland helfen schließlich bei der Umsetzung im Feld.
Edge Computing: Erzeugungs- und Verbrauchsdaten werden dezentral verarbeitet und analysiert
KI wird heute zwar schon in Ansätzen zur Steuerung der Stromversorgung erforscht. Aber das Bielefelder Forschungsteam und seine französischen Kolleginnen und Kollegen gehen noch weiter und verknüpfen die KI mit Edge Computing. „Edge Computing bedeutet, dass die Daten nicht zentral in der Cloud verarbeitet werden, sondern dezentral genau dort, wo sie erzeugt werden“, erklärt Timon Jungh. Der Biomechatroniker (MA) forscht in der Arbeitsgruppe von Prof. Dr.-Ing. Ulrich Rückert am CITEC (Center for Cognitive Interaction Technology) und promoviert ebenfalls im Projekt. „Das ist eine echte Innovation“, betont Katrin Schulte. „Wir erhöhen damit die Sicherheit und den Datenschutz, denn Stromversorgung gehört zur kritischen Infrastruktur und muss gewährleistet sein.“ Wenn eine dezentrale KI-Einheit ausfällt, kann eine andere sofort die Kontrolle übernehmen. Und wenn die Daten nicht verschickt werden müssen, können sie unterwegs nicht verloren gehen oder gehackt werden. Und es gibt noch einen Vorteil der dezentralen Herangehensweise: „Die Daten können vor Ort mit geringerer Verzögerung verarbeitet werden“, so Timon Jungh.
Bessere Prognosen können erstellt werden – Versorgung wird zuverlässiger
Vor Ort – das ist beispielsweise in Herford: Ein großer grauer Kasten mit breiten Lüftungsschlitzen steht in einem Wohngebiet am Straßenrand. An der Seite prangt ein gelber Aufkleber mit schwarzem Blitz: eine Ortsnetzstation. In ihr wird ankommende Mittelspannung in Niederspannung transformiert, mit der dann die umliegenden Häuser versorgt werden. Marco Sawatzki öffnet die Station. Zum Vorschein kommen Kabel, Schalter, Zähler, ein Messfeld. Sawatzki schließt seinen Laptop an. „Jetzt kann man sehen, wie viel Strom aktuell von den Haushalten verbraucht wird. Eingespeist wird momentan offenbar nichts“, erläutert der Mitarbeiter der Westfalen Weser Netz, dem Industriepartner auf deutscher Seite im Projekt. AI4DG sieht vor, dass genau an dieser Stelle, direkt in der Ortsnetzstation, KI die Messdaten verarbeitet. „Wir setzten die Analysen der KI dann beispielsweise für Prognosen ein. Sie sollen den Verbrauch von einzelnen Haushalten vorhersagen oder die von PVs erzeugte Leistung“, erklärt Katrin Schulte. Je nachdem lassen sich dann die Batterien in den Haushalten mit PVs netzdienlich steuern und die erzeugte Energie entweder speichern oder in das Netz einspeisen, sodass immer eine gleichbleibende Spannung vorhanden und die Stromversorgung gesichert ist sowie Überlastungen im Netz vermieden werden.
Transfer pur: Vom Labor, über das Feld bis hin zum marktfähigen Produkt
Bevor es soweit ist, entwickeln und optimieren Schulte und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter ihr Steuerungssystem allerdings zunächst am Computer und im Labor: Mit einer speziellen Software wird als Simulation ein Stromnetz aufgebaut, die realen Daten dafür liefert Westfalen Weser Netz. „Das ist unsere Spielwiese, hier probieren wir unsere selbst programmierten Algorithmen aus“, sagt Katrin Schulte. Bestehen sie die Tests, geht es ins Netz-Simulationslabor Smart Energy Applications (SEAp). Hier fließen echte Ströme, und das Steuerungssystem wird mit Hilfe verschiedener Hardware-Komponenten wie Batteriespeicher und elektronischen Lasten validiert. „Erst dann überprüfen wir unser System in einem Feldversuch im echten Stromnetz zusammen mit Westfalen Weser Netz. Und wenn es gut funktioniert, können die Industriepartner unser System zu einem marktfähigen Produkt weiterentwickeln.“
Kooperation mit Frankreich bereichernd – europaweiter Nutzen angestrebt
Möglicherweise auch für den europaweiten Einsatz: AI4DG ist ein internationales Forschungsprojekt. Es wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen des Programms für deutsch-französische Projekte zum Thema Künstliche Intelligenz mit insgesamt rund einer Million Euro gefördert (rund 200.000 Euro davon erhält die FH). Prof. Haubrock hat den Kontakt zu den französischen Partnern hergestellt und freut sich über die internationale Zusammenarbeit: „Durch die Kooperation mit Frankreich können verschiedene Verteilnetzstrukturen für eine Übertragbarkeit der KI-Methoden auf das europäische Energiesystem betrachtet werden. Das wird die etablierten, nationalen KI-Strategien bereichern.“
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