Studie zu EU-Vorgaben für die Lebensversicherungsbranche
© FH Dortmund | Pascal Beckmann
Dortmund, 12. September 2024. Die Lebensversicherungsbranche muss ihre Kund*innen zu Nachhaltigkeitspräferenzen befragen und sie über Nachhaltigkeitsmerkmale der Angebote informieren. So fordert es die EU. Doch die guten Absichten verlieren sich in den schwer verständlichen Formulierungen und europarechtlichen Vorgaben. Eine einfachere, lebensnahe Sprache und „Nudging“ könnten helfen, die Kund*innen für mehr Nachhaltigkeit zu begeistern. Das konnten Forschende der Fachhochschule Dortmund in einer umfangreichen Studie belegen.
Die Europäische Union möchte bis 2050 klimaneutral werden und eine umfassende Transformation der Wirtschaft erreichen. Zur Finanzierung sollen in großem Umfang private Mittel umgeschichtet werden, die unter anderem in privaten Lebens- und Rentenversicherungen gebunden sind. Deshalb müssen bereits seit 2022 Kund*innen vor dem Versicherungsabschluss gefragt werden, ob sie einen Mindestanteil an Taxonomie-konformen Anlagen oder einen Mindestanteil an ökologisch und/oder sozial nachhaltigen Anlagen gemäß Offenlegungsverordnung wünschen. Letzteres wird unter der Abkürzung „ESG“ (Environment, Social and Governance) zusammengefasst. Auch soll erfragt werden, ob konkrete Beeinträchtigungen auf Nachhaltigkeit explizit ausgeschlossen werden sollen.
„Die Begriffe sind für Laien schwer verständlich, und selbst Fachleute können kaum den Unterschied zwischen Taxonomie- und ESG-konformen Anlagen erklären“, sagt Prof. Dr. Matthias Beenken. Er lehrt Versicherungswirtschaft an der FH Dortmund und stammt aus der Branche. „Dazu kommt das Enttäuschungspotenzial, denn nachhaltigkeitsinteressierte Kund*innen wünschen verständlicherweise hohe Mindestanteile, die aber am Markt so noch gar nicht verfügbar sind“, ergänzt sein Kollege Prof. Dr. Lukas Linnenbrink, Stiftungsprofessor für Versicherungs- und Risikomanagement an der FH Dortmund. Auch er hat viele Jahre in der Branche gearbeitet.
Viele Informationen, wenig Informiertheit
Die europarechtlich bis in Layout-Details festgeschriebenen Pflichtinformationen zu den Nachhaltigkeitsmerkmalen der Angebote helfen ebenfalls nicht weiter. „Das beginnt schon damit, dass sie mit ‚Finanzprodukt‘ statt mit ‚Versicherung‘ überschrieben werden müssen“, kritisiert Linnenbrink. Auch die teils widersprüchlich erscheinenden Pflicht-Grafiken verursachten mehr Verwirrung statt Aufklärung. Prof. Beenken stellt fest: „Wir haben uns Angebote am Markt angesehen, die typischerweise um die 100 Seiten Pflichtinformationen und Versicherungsbedingungen umfassten, darunter zwischen 11 und 13 Seiten allein zum Aspekt Nachhaltigkeit – das liest niemand, und das hilft niemandem.“
In ihrer repräsentativen Studie „Vertrieb nachhaltiger Versicherungen“ sind die Forschenden am Fachbereich Wirtschaft der FH Dortmund der Frage nachgegangen, ob bessere Informationen den Kund*innen helfen können, sich für nachhaltige Versicherungsanlageprodukte zu entscheiden. Gleichzeitig sollte die Wirkung von Anreizen im Beratungsprozess – auch als „Nudging“ oder „Anstupsen“ bekannt – getestet werden. Für die Untersuchungen wurde das fiktive Angebot einer fondsgebundenen Rentenversicherung für die Altersvorsorge genutzt.
Drei von zehn Kund*innen wünschen die nachhaltige Variante
Im Experiment mit 2.000 Proband*innen zeigten sich 29 Prozent am Abschluss einer nachhaltigen Rentenversicherung interessiert. Weitere 19 Prozent konnten sich auch den Abschluss einer nichtnachhaltigen Variante derselben Rentenversicherung vorstellen. Nur 23 Prozent waren sich sicher, keine der beiden Varianten abzuschließen. Der Rest wollte sich nicht festlegen.
Die Teilnehmenden wurden im Experiment in 15 Gruppen aufgeteilt, die verschiedenen Anreiz-Faktoren ausgesetzt waren: einer Vorabinformation zur Nachhaltigkeit, einer emotionale Nachhaltigkeitsbefragung, einem Nachhaltigkeitssiegel und einer Vorbelegung der gewünschten Antwort, was auch als Default-Option bezeichnet wird. Einige Gruppen wurden nur einem dieser Anreize ausgesetzt, andere einer Kombination aus mehreren. Die Kontrollgruppe hatte keine dieser Veränderungen im Beratungsablauf.
Einfache Fragen fördern das Nachhaltigkeitsinteresse
Das Nachhaltigkeitsinteresse der Kund*innen konnte dabei in großem Maß gesteigert werden, wenn die europarechtlich vorgeschriebene, technokratische Abfrage der Nachhaltigkeitspräferenzen durch eine vereinfachte und emotionalisierte Ansprache ersetzt wurde. In diesen Fällen äußerten bei der Befragung vor Vertragsabschluss 60 statt nur 47 Prozent der Getesteten, an der Nachhaltigkeit ihrer Anlage interessiert zu sein. Von denen wiederum konnten sich erheblich mehr Kund*innen für ökologisch nachhaltige Anlagen im Sinn der Taxonomieverordnung (89 statt 54 Prozent) oder für allgemein nachhaltige, ESG-konforme Anlagen im Sinne der Offenlegungsverordnung (73 statt 58 Prozent) entscheiden.
„Die vereinfachte und emotional gehaltene Ansprache im Experiment widerspricht zwar den aktuell geltenden gesetzlichen Vorschriften“, so Prof. Beenken, „aber sie ist laienverständlich und erschließt das große Interesse in der Bevölkerung an nachhaltigen Lösungen viel effektiver. Die Europäische Union sollte die Vorschriften dringend vereinfachen, laienverständliche Fragen zulassen und den Profis der Branche die bestmögliche Umsetzung der Nachhaltigkeitspräferenzen in geeignete Produkte als Pflicht auferlegen.“
Default-Option hilft bei der Entscheidung
Unter den vier „Nudging“-Faktoren war die Default-Option am besten geeignet, die Kunden in Richtung der nachhaltigen Variante eines Rentenversicherungsangebots zu lenken. Die Wirkung wurde durch die Kombination mit weiteren Anreiz-Faktoren verstärkt. „Allerdings stimmt hier nicht die Formel ‚viel hilft viel‘, denn zu viel ‚Anstupsen‘ schreckt Kund*innen wieder ab“, betont Prof. Linnenbrink. „Insgesamt haben wir zwar nur leichte, aber doch überzeugende Wirkungen solcher Anreize messen können.“
Zugleich stellen die Autoren fest, dass der Vertrieb von Lebens- und Rentenversicherungen ohne Beratung nicht sinnvoll erscheint. „Wir konnten nur kleine Ausschnitte aus dem üblichen Beratungs- und Informationsprozess simulieren. In der Realität würden Berater*innen die Kund*innen viel ausführlicher informieren und ihre Fragen beantworten“, sagt Prof. Beenken.
Eine erfreuliche Entwicklung auf zeige sich beim Wissen in der Bevölkerung über den Zusammenhang zwischen Versicherungsanlageprodukten und der Nachhaltigkeit, so die Autoren der Studie. Der Anteil der Kund*innen, die entsprechende Werbung oder Informationen wahrgenommen haben, ist gegenüber einer vorhergehenden Studie der Fachhochschule Dortmund aus dem Jahr 2023 (DOI 10.26205/opus-3336) von 7 auf 16 Prozent (Werbung) bzw. von 6 auf 14 Prozent (Informationen) gestiegen. Auch der Anteil von Kund*innen, die eine Beratung dazu erhalten haben, stieg von 3 auf 8 Prozent.
Originalmeldung:
www.fh-dortmund.de/news/studie-vertrieb-nachhaltiger-versicherungen.php
Ansprechpartnerin:
FH Dortmund
Pressesprecherin
Heike Mertins
+49 (0)231 9112 9127
heike.mertins@fh-dortmund.de